Die Geschichte von Jana

Kapitel 1


Vor ihr brandete der Verkehr. Zwei Spuren in jeder Richtung und ohne Mittelstreifen voller dahinsausender Massen aus Blech, Metall und zumeist einem Menschen darin, die oder der gerade vom Arbeitsplatz zur Wohnung fuhr oder noch etwas vor Ladenschluss einkaufen wollte. Die im Laufe der Jahrzehnte durch die Abgase schwarz gefärbten Steinmauern, die die Yorkstraße hier von beiden Seiten dicht einfassten, reflektierten den Verkehrslärm, sodass man wie in einem Schallkessel stand.

Hinter Jana verteilten sich die anderen Passagiere der U-Bahn Linie 7 nach links oder rechts den Gehweg entlang. Niemand ging hier über die Straße. Obwohl es der kürzere Weg war, wenn man, wie Jana, in die Katzbachstraße wollte.

Sie stand und wartete. Auf den Augenblick, in dem auf den beiden vorderen Spuren das Loch entstand im Fahrzeugstrom. Das immer kam, da es Ampelphasen gab, die jede Kreuzung für einen kurzen Moment in beiden Richtungen sperren.

Jetzt war es soweit. Für nicht einmal 10 Sekunden konnte man unbeschadet bis zum trennenden Strich in der Mitte der Straße gehen um nun direkt vor dem tosenden Strom der Gegenseite zu stehen. Hinter ihr nahte von links bereits die nächste Woge eilender Karossen. Doch es geschah wie immer: Bevor sie diese erreicht hatten, entstand das Loch im Verkehrsstrom der Gegenseite und Jana ging über die leeren Fahrspuren zum Gehweg der gegenüberliegenden Seite.


Jana kam hier jeder Stein bekannt vor. Schon so lange lebte sie in diesem Bezirk. Sie ging den Gehweg entlang und ihr Blick schweifte über die Plakate der Gegenseite, die einzige Farbe, die es hier unter den Brücken gab. In der letzten Zeit war es Mode geworden, stets mindestens drei gleiche Plakate nebeneinander zu kleben. So war die Botschaft eindringlicher. Als wenn jemand dreimal nacheinander dasselbe zu jemandem sagt, dachte Jana.

Ihre Wohnung lag im Vorderhaus eines im Jahr 1888 gebauten Hauses. Sie erklomm die Stufen des breiten Treppenhauses und schaute, wie jedes Mal, ehrfürchtig an den hohen und massiven Holztüren der ersten drei Stockwerke entlang. Hier gab es nur zwei Wohnungen je Stockwerk und für Janas Verhältnisse waren diese riesig. Zwei ersteckten sich noch bis in den Seitenflügel hinein. In ihrem vierten Stockwerk waren die Türen nicht mehr verziert, die Türbeschläge schlicht, die Decke war flacher und es gab drei Türen, denn die Wohnungen waren nachträglich in kleinere aufgeteilt worden.

Im dritten Stock blieb sie beim Anblick der linken Tür stehen. Richtig! Sie hatte heute und morgen einen Auftrag für diese Wohnung! Jana eilte die verbleibenden Stufen hinauf und da lag er: Der lange und gußeiserne Schlüssel zur Wohnung im dritten Stock, so groß, dass er unmöglich in eine Jeans-Tasche passte. Die Nachbarin, etwa 10 Jahre älter als Jana, eine attraktive Frau mit wachem und zugewandtem Blick, Mutter zweier Töchter und Oberhaupt ihrer alternativen Familie hatte ihn ihr gestern Abend gegeben. Sie seien für zwei Tage weg und ob sie nicht nach den Fischen gucken könnte. Sie hatte ihr kurz das Aquarium gezeigt im riesigen, jedoch dunklen Wohnzimmer, da es nur ein einzelnes großes Fenster gab und dieses ging nach hinten in den Hof, wo eine haushohe Kastanie im vollen grünen Kleid stand.

Jana machte sich ein Brot zurecht und ging mit dem Teller auf den Balkon. Die Abendsonne war noch für eine halbe Stunde da, bevor sie hinter der Häuserschlucht verschwinden würde. Sie spürte die wärmenden Strahlen auf ihrer Haut und setzte sich auf den alten Klappstuhl aus Holz. Doch auch dieses Mal war der Lärm der Straße zu eindringlich. Sie liebte die Momente auf ihrem Balkon, doch es waren nur die Sonntag-Vormittage, an denen das Geräusch der Straße unter ihr für sie erträglich genug war, um zu verweilen.


Nach dem Abendessen ging sie hinunter. Der Schlüssel passte und die schwere Tür schwang auf. Allein der Flur war ein Zimmer für sich. Jana bemerkte die herzliche Atmosphäre der Wohnung und auch das bunte Durcheinander von einem Ort, an dem Kinder zuhause sind. Doch es gab auch etwas Schweres in dieser Wohnung. Die Fenster nach vorne zur Straße waren verhangen, überall lagen Teppiche, zumeist orientalischer Art und die Wände waren voll gestellt. Das helle Holz, aus dem die allermeisten Möbel waren, konnten diese Dunkelheit nicht nehmen.

Oder war es eher Janas Schwere, in dieser ihr fremden Wohnung zu stehen, die sie nur einmal zuvor betreten hatte!?

Sie ging zum Aquarium und schaute den Goldfischen zu, wie sie scheinbar ziellos und doch in selbstverständlicher Art und Weise ihre Wege zogen. Es waren viele, bestimmt 30, und alle etwa gleich groß und orange. Sie sollte das Futter erst morgen geben, eine Tablette und etwas aus einer Packung streuen. So schaute sie nur. Etwas an der Stille in diesem Raum bekümmerte sie.


Am nächten Morgen verging die Zeit wie immer zu schnell. Hastig verschlang Jana das Frühstücksbrot und packte schon gleichzeitig ihren Rucksack für die Uni. Sie stürzte die Treppe hinunter und hatte ihren Auftrag in der Wohnung unter ihr vergessen, doch beim Anblick der Tür fiel es ihr wieder ein. Schnell holte sie das Ungetüm von einem Schlüssel, der immer noch passte, schloss auf und eilte ins Wohnzimmer.

Sie kniete vor dem Aquarium und erstarrte. Das, was sie sah, ließ sie von innen heraus erschaudern. Am schlimmsten war der Anblick der drei Fische, die mit ihrem helleren Bauch nach oben an der Wasseroberfläche trieben, leblos und wie aufgeblasen. Doch auch der Anblick der anderen war beklemmend: Alle schwammen ganz oben. Viele hatten ihr Maul weit geöffnet und berührten, ruckartig paddelnd, von unten die Wasseroberfläche, als wenn diese eine Decke wäre, an der man sich festsaugen konnte.

Was hatte sie falsch gemacht!? Hätte sie das Futter oder zumindest die Tablette doch schon gestern geben sollen? Aber das kann doch nicht sein, dass Fische schon nach einem Tag ohne diese Zufuhr sterben!?

In einer Mischung aus Abscheu und Panik schaute Jana um das Aquarium herum. Sie fand keine weitere Packung von Nahrung oder sonst etwas, was die Fische gebrauchen könnten.

Da sah sie das Stromkabel. Es führte von der Steckdose in das Aquarium hinein und dort zu einem schwarzen Kasten, an dem zwei durchsichtige Schläuche steckten, von denen einer nach draußen über den Beckenrand führte und der andere ein Stück weit den Boden des Aquariums entlang ragte. Etwas stimmte an diesem Kasten nicht. Wozu brauchte der Strom, wenn er doch, von außen betrachtet, nichts tat!?

Ein Wort tauchtet in Janas Denken auf, was eine Kaskade von weiteren Worten hervorbrachte: Eine Pumpe! Fische in einem Aquarium brauchen Luft, die mittels einer Pumpe in das Wasser hineingeblasen wird! Und diese hier war defekt. Kein Luftbläschen trat aus dem Schlauch. Deshalb japsten die Fische oben an der Wasseroberfläche. Und deshalb war das Aquarium auch so still!

Jana musste die Pumpe herausholen. Es kostete sie einige Momente lang Überwindung, in das trübe Wasser hineinzulangen, vorbei an den toten Fischen der Oberfläche, doch dann hatte sie den kleinen Plastikkasten in der Hand. Sie probierte ihn an einer anderen Steckdose, doch auch hier tat sich nichts. Öffnen konnte man ihn nicht, er war rundherum verschweißt. Das Kabel und die Schläuche waren intakt. Auch Durchpusten half nichts. Also eine neue Pumpe besorgen. Jana griff ihren Rucksack und war schon fast aus der Tür, da kam ihr eine Idee: Sie suchte in der Küche in allen Schubläden, bis sie sie endlich in einem Glas steckend im Glasschrank fand: Strohhalme. Sie steckte drei zusammen, ging damit zum Aquarium, holte tief Luft, steckte die Strohhalme tief in das Wasser und blies hinein. Eine große Luftblase ließ fast das Wasser und einen oben treibenden Fisch über den Rand schwappen. Sie holte die zusammengesteckten Strohhalme wieder heraus und knickte das untere Ende des letzten ein. Jetzt klappte es. In kleinen Blasen kam die Luft heraus, wenn Jana hineinblies. Die Fische drängten sich um das Ende des Strohhalms und schnappten nach den Luftblasen.

Nach einer Weile des Blasens stand sie auf. Manche Fische machten nun wieder einen lebendigeren Eindruck. In der Küche fand sie eine Spaghetti-Schöpfkelle, mit der sie die drei gestorbenen Fische zum Biomüll brachte. Dann eilte sie hinunter auf die Straße.

Einige Häuser weiter war noch ein alter Heimwerkerbedarf-Laden, der noch nicht einem neuerdings an vielen Ecken entstehenden Import-Export- oder Resteartikel-Laden Platz gemacht hatte. Der alte Mann hinter der Theke und überhaupt der ganze Laden, in dem sich die Artikel in fein beschriebenen Kartons und Kästen bis unter die Decke stapelten, schien jedoch aus vergangenen Jahrzehnten zu entstammen, was Jana den Eindruck vermittelte, nicht mehr lange in diesem Laden einkaufen zu können.

Eine solche Pumpe hatte er nicht. "Da müssen Sie schon in eine Tierbedarfshandlung gehen", sagte der Mann in seinem grauen Kittel. Im Wedding ist eine. In der Müllerstraße.

Jana konnte es nicht glauben. Das war ewig weit entfernt! In der ersten Telefonzelle waren die Telefonbücher komplett herausgerissen. In der zweiten waren immerhin die gelben Seiten noch vorhanden. Es gab wirklich nur zwei Einträge unter "Tierbedarf" und der im Wedding schien, der Größe der Anzeige nach zu urteilen, auch der größere Laden zu sein.


Die erste Vorlesung war nun schon fast vorbei, fiel Jana ein, als sie in der U-Bahn saß. Das bedrückte sie, denn sie hatte schon zu viel versäumt in diesem Semester. Und auch insgesamt studierte sie schon zu lange, länger als der Durchschnitt. In zwei Semestern könnte sie ihr Diplom geschafft haben, doch bis dahin war noch viel zu bestehen und zur Zeit ließ ihr ihr Job in der werbeagentur, den sie für ihren Lebensunterhalt brauchte, wenig Energie für das Studium.

"Ja, eine solche Pumpe kann ich ihnen besorgen", sagte der Mann in der wahrlich riesigen Tierbedarfshandlung, in der in allen Aquarien Luft aus unterirdischen Schläuchen blubberte. "Heute nachmittag habe ich sie da. Oder sie nehmen gleich diese komplette Anlage hier." Doch diese überstieg bei weitem Janas Barschaft. Schon die 36 DM für die kleine schwarze Pumpe fand sie ungeheuer viel Geld. Doch der Mann gab ihr keine Alternative. So bestellte Jana die Pumpe, die sie um 14 Uhr abholen konnte.

Draußen umfing sie eine Verlorenheit, die sie nur zu gut kannte. Es war halb Elf, schon wieder stand sie umgeben von tosenden Autos an einer Hauptverkehrsstraße, diesmal in einem ihr fremden Bezirk, ihre zweite Vorlesung an diesem Tag hatte soeben ohne sie begonnen und viele Straßen weit entfernt japsten die Goldfische weiter nach Luft. War das die richtige Entscheidung gewesen, die teuere Anlage nicht zu kaufen!? Sie hätte zum Bank gehen können und das Geld hätte sie wohl von der Nachbarin wiederbekommen. Sie wusste nicht, was richtig und falsch war und ging weiter, entschied sich dann jedoch, noch zur zweiten Tierbedarfshandlung zu fahren, die dankbarerweise auch im Bezirk Wedding lag. Auch dort gab es jedoch nur die teueren Komplettlösungen. So fuhr Jana in die Mensa in der Hardenbergstraße um diesem verkorksten Tag zumindest eine warme Magengrundlage zu geben.


Um 14:00 Uhr nahm sie im ersten Laden die kleine schwarze Pumpe entgegen und betrat wieder einmal die U-Bahn. Wieviel Zeit hatte sie schon in all den Jahren ihrer Studienzeit in diesen unterirdischen Gängen verbracht!? In der Wohnung ihrer Nachbarin angekommen war das Bild so schlimm wie befürchtet: Nun trieben mindestens sechs Fische mit dem Bauch nach oben an der Oberfläche, fast alle anderen paddelten in einer Ecke mit dem Maul nach oben.

Die Pumpe funktionierte. Erst jetzt fiel Jana ein, dass sie das schon besser im Laden hätte probieren sollen. Die Schläuche passten und nach wenigen Handgriffen blubberten nun kleine Luftblasen durch das Wasser. Die Fische drängten sich um die aufsteigenden Blasen und schon bald schwammen auch einige wieder etwas tiefer im Aquarium und machten einen recht alltäglichen Eindruck. Das Futter, das Jana morgens gestreut hatte, schwamm noch unberührt auf der Oberfläche. Sie reinigte das Bassin, nahm die leblosen Fische heraus, gab ihnen neues Futter und sah mit Erleichterung, dass nun einige nach den dünnen Flocken schnappten. Dann ging sie noch in den Hof hinunter und beerdigte alle Fische in einer Ecke unter der Kastanie, auch die, die schon im Biomüll gelegen hatten.

Noch knapp schaffte sie es zur Uni und zur Laborübung in technischer Akustik, die um 16:00 begann und bei der Anwesenheitslisten geführt wurden.

Abends fuhr sie heim, überquerte wieder einmal die Straße und ging den von nur Wenigen benutzten Gehweg entlang. Die Sonne stand schon flach. Jana schaute nach oben und wurde den Brücken über ihr gewahr, die mit ihren rostigen Stahlträgern über der Straßenschlucht lagen. Oben war eine kleine Oase in der Stadt, denn der Anhalter Güterbahnhof, zu dem die Gleise führten, war seit Jahrzehnten still gelegt. Hohes Gras überwucherte nun die Gleise und es stand sogar unter Naturschutz, weil es dort Pflanzen gab, die in der restlichen Stadt kaum zu finden waren. All das wusste man nur, wenn man einmal oben gewesen war, über den Brücken.

Hier unten hasteten auch um diese späte Uhrzeit Menschen an ihr vorbei, zur U-Bahn. Zumeist junge Menschen, wie Jana oder auch ältere, entweder aus der alternativen Szene stammend oder einfache Arbeiter oder ohne Arbeit. Kaum jemand schaute auf. Ein Plakat zeigte einen dunkelhäutigen Schönling und ein aufwändig verpacktes Parfum daneben. Wie so oft machte sich Jana Sorgen um ihren Geruchssinn, denn sie nahm kaum Gerüche wahr.

Zum Glück war ihr Mitbewohner zuhause und kochte Spaghetti, als sie zur Tür hereinkam. Stolz und gutgelaunt zeigte er ihr die Pfanne mit dem offensichtlich selbst gekochten Tomatensud. "Magst du mitessen?", fragte er aufmunternd.


In den folgenden Tagen dachte Jana noch oft an die Fische. Die Nachbarsfamilie hatte ihr ihr aufrichtiges Mitgefühl gezeigt für all die Umstände, die Jana gehabt hatte. Das Geld hatte sie auch wiederbekommen doch betroffen war die Mutter nicht. "Die ist schon oft ausgefallen, die Pumpe", meinte sie noch. Doch das Bild, vor allem von den umgedreht treibenden Fischen, blieb ihr im Gedächtnis und tauchte immer wieder vor ihrem inneren Auge auf.


 

Eines Nachmittags fuhr sie wieder mit der U-Bahn in den Wedding, diesmal stieg sie jedoch in der Schwartzkopfstraße aus, lief vorbei am ehemaligen Stadion der Weltjugend, in dem man heute Golfabschläge üben konnte und an den endlosen Sichtschutzwänden einer Baustelle, hinter der Bagger und Presslufthammer dröhnten.

Sie ging die Chausseestraße entlang, auf dem Weg zu ihrem Freund, den sie erst vor ein paar Wochen kennen und lieben gelernt hatte. Unweit rechts von ihr lag nun der Volkspark Humboldhain, eine weitere grüne Oase der Stadt mit dem Freibad, an dessem letzten Öffnungstag sie ihr Freund zu ihrem ersten Rendezvous eingeladen hatte.


Schon wieder dachte sie an die Fische, die auf dem Wasser getrieben hatten. Da war viel Traurigkeit in ihr bei dem Gedanken an die Fische. Die keine Luft hatten in ihrem Aquarium und auch keinen Ausweg. Es war ihr als könnte sie am eigenen Leib empfinden, wie sich diese im stets trüber werdenden Wasser gefühlt hatten.

Sie bog in die Neue Hochstraße ein. Der Verkehr wurde ruhiger. Sie ging an einem Baum vorbei als sie plötzlich ein Gedanke durchzuckte, der wie Schleusentore ihre Traurigkeit öffnete: Sie war die Fische!! Die stetigen Anforderungen und Pflichten waren das enge Aquarium und ihr grauer Alltag das trübe Wasser. Ihr fehlte Luft zum Atmen!

Dicke Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie in den dunklen Hausflur einbog. Sie ging über den Hinterhof und erklomm die Stufen zum vierten Stock des Hinterhauses, wo man aus dem Zimmer ihres Freundes auf den dahinterliegenden Park blicken konnte.




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